Zuletzt aktualisiert am 13. April 2021 um 11:14
Drei Jahre lang hat die amerikanische Autorin Jandy Nelson an ihrem Jugendroman ICH GEBE DIR DIE SONNE – erschienen im cbj-Verlag – geschrieben. Und einen ziemlich großen Wurf gelandet.
Eine Geschichte, zwei Stimmen
ICH GEBE DIR DIE SONNE ist eine Geschichte, die zweistimmig erzählt wird: Die Story des dreizehnjährigen Noah wechselt sich ab mit den Schilderungen der sechzehnjährigen Jude. Noah und Jude sind Zwillinge. Noah beschäftigt sich vor allem mit seinem künstlerischen Talent und der Erkenntnis, dass ihn Jungs mehr interessieren als Mädchen, während seine Schwester Jude ein klassisches kalifornisches Surfergirl mit Freundinnen-Clique und Flirts ist.
Im Verlaufe der drei Jahre, die Jandy Nelson zwischen die Erzählstränge des Buchs legt, verändert sich nicht nur die Familiensituation der Zwillinge auf dramatische Weise, sondern auch ihre Persönlichkeiten scheinen sich fast zu vertauschen. Die Leser werden hin- und hergeworfen zwischen zwei völlig verschiedenen Versionen derselben Teenager: Jude vergräbt sich nach der Trennung der Eltern und dem Tod der Mutter in eine unzugängliche und hypochondrische Innenwelt. Noah, abgelehnt von einer Kunstschule, die seine wesentlich weniger kunstinteressierte Schwester zugelassen hat, kompensiert diese Niederlage durch die Annahme einer Mainstream-Persönlichkeit.
Die Realität ist eine komplexe Angelegenheit
Dass da irgendetwas ganz und gar nicht stimmt, bemerkt man bei der Lektüre des Romans sehr schnell, doch gleichzeitig erkennt man: Genau so ist die Realität; das Schicksal bewegt sich nicht auf den Wegen, die zunächst wie vorgezeichnet scheinen. Biografien schlagen Haken, bilden Knoten, zeichnen bizarre Schlaufen. Und manche Lebenssituationen sind so kompliziert, dass gesunder Menschenverstand und gute Intentionen nicht ausreichen, um die Dinge schnell mal aufzulösen. Das ist erfreulich ehrlich für einen Roman, der sich an Leser ab 14, also in einem wahrlich komplexen Lebensalter, richtet.
Noah und Jude sind in einem engen Gefleicht von Vertrautheit und Konkurrenz miteinander verbunden, sie lieben einander und fügen einander Schmerzen zu, an denen der Täter am Ende ebenso leidet wie das Opfer. Jandy Nelson verleiht beiden sehr individuelle Stimmen, mit denen sie ihre Gedanken und Erlebnisse reflektieren. Jude befindet sich im konstanten Dialog mit ihrer verstorbenen Großmutter, ohne genau zu wissen, ob sie sie für einen Geist oder ein Hinrgespinst halten soll. Die Großmutter ist eine resolute und exzentrische Persönlichkeit, die kein Blatt vor den Mund nimmt und dem Roman eine gute Dosis Witz verleiht. Noah hingegen fasst seine entscheidenden Eindrücke und Erkenntnisse in sehr lakonische Titel von Bildern, die die augenblickliche Situation für ihn auf den Punkt bringen. “Selbstporträt: Ich stehe auf meinem eigenen Kopf“, heißt es da etwa.
Und dann ist da die Kunst
Für beide Zwillinge ist die Kunst – die offiziell anerkannte, vor allem aber die eigene – ein Medium, das ihre Erfahrungen und Gefühle greifbar werden lässt. Sie ist genau so vielfältig, widersprüchlich, zerrissen, schön und traurig wie das echte Leben – und eignet sich perfekt dafür, dieses Leben ein bisschen besser zu verstehen. In Jandy Nelsons Roman wird das dem Leser nicht abstrakt mitgeteilt wie in diesem Blogartikel, sondern er wird mitten hineinversetzt in die plastische Sichtweise der Zwillinge, die die Wirklichkeit in immer neuen, anderen künstlerischen Bildern wahrnimmt. Weshalb ICH GEBE DIR DIE SONNE zwar eine typische Coming-of-Age-Geschichte mit zwei Love-Storys ist, nicht zuletzt jedoch ein bemerkenswerter Roman über Kunst.
Jandy Nelson schreibt locker und amüsant, flicht in ihre Geschichte aber mit großer Coolness eine Fülle überraschender Gedanken, poetischer Wahrnehmungen und abgründiger Empfindungen ein. Dass so ein Young-Adult-Roman es auf den ersten Platz der Bestsellerliste der New York Times geschafft hat, ist ein Grund zur Freude für alle, die beim Lesen zwar Spaß haben, dennoch aber nicht mit der x-ten Variante eines bekannten Romanschemas abgespeist werden wollen.
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