Zuletzt aktualisiert am 9. Dezember 2019 um 16:17
Beachtlich: Das Zeppelin Museum in Friedrichshafen zeigt eine groß angelegte Ausstellung mit dem Titel “Schöne neue Welten. Virtuelle Realitäten in der zeitgenössischen Kunst”. Wir waren da: meine 13-jährige Tochter und ich. Und haben uns ziemlich unvoreingenommen auf die künstlerische Virtual Reality eingelassen, die am Bodensee geboten wird.
Kunsterlebnis unterm Headset
Dass diese Ausstellung etwas anders ist als andere Kunstschauen, wird sofort deutlich: Wir betreten einen großen Raum mit kryptischen Arrangements zum Sitzen und Stehen vor und unter Headsets. Gerade sitzt ein kleines Mädchen unter dem Set von “ASM(V)R”, das die Künstler Salome Asega, Reese Donohue und Tongkawi Lulin entwickelte haben. Als es fertig ist, rennt das Kind zu seiner Mutter und sagt: “Das war schön!” Meine nicht mehr ganz so kleine Tochter ist die Nächste. Sie nimmt sich ihre Zeit, dreht sich mit ihrem Headset hin und her, wirkt zufrieden, gibt an mich weiter. Ich finde mich eingetaucht in eine surreale, tropische und erotische Welt, in der sich Formen und Motive geschmeidig bewegen und verwandeln. Eine Stimme spricht beruhigend auf mich ein. Sehr entspannend.
Eine virtuelle Skulptur zum Selbermachen
Die nächste Headset-Station wirkt von außen skurril, was auf dem Bild ganz oben in diesem Beitrag zu sehen ist: Der Besucher, der an der Reihe ist, steht vor einem großen Wandteppich mit Bildmotiv und greift in den leeren Raum hinein. Der Künstler Florian Meisenberg steht hinter dem Kreativ-Spiel “Pre-Alpha Courtyard Games (raindrops on my cheek)”. Meine Tochter und ich bekommen genau erklärt, was wir tun sollen: Vor unseren Augen zeigt sich eine dreidimensionale virtuelle Gitterstruktur, die wir mit Handgriffen verformen können. In einem zweiten Schritt sollen wir sie mit einer Bildplane versehen, danach wird sie in den virtuellen Himmel gedreht; später ließe sie sich über einen QR-Code downloaden. Sogar ein 3-D-Ausdruck wäre theoretisch möglich, wie uns gesagt wird. Womit wir ein waschechtes Kunstwerk im virtuellen Raum kreiert hätten. Sehr cool. Mein Kunstwerk ist zwar wenig überzeugend, die Bildplane lässt sich nicht so leicht übers virtuelle Gitter ziehen, aber ein interessantes Experiment ist es in jedem Fall. Meiner Tochter allerdings ist schlecht. Mit virtuellen schwarzen Händen im widerstandsfreien Raum nach nicht ertastbaren Dingen zu greifen, ist allzu befremdlich für sie. “Ich setze mich keinem von diesen Kunstwerken mehr aus”, erklärt sie mir.
Bedrohung von allen Seiten
Ich schon. Immerhin bin ich bis nach Friedrichshafen gefahren, um genau das zu tun. Ich gerate in eine Kammer, in der Licht- und Bildelemente dank einer 3-D-Brille räumliche Formen annehmen. Ein weiteres Headset versetzt mich in die Mitte eines bedrohlichen Sci-Fi-Kurzfilms, in dem es Weißen von Seiten der Schwarzen an den Kragen geht: “Let This Be A Warning” von The Nest Collective aus Kenia. Ich bin nicht allzu beeindruckt. Natürlich ist die räumliche Rundum-Immersion eindringlicher als ein zweidimensionaler Film auf einer Leinwand, aber die ganze Sache fühlt sich stark nach einem technischen Experiment an. Die Auflösung ist nicht so gut wie bei einem Standardfilm; die leicht unbequeme, sehr unnatürliche Situation, mit einem Headset im leeren Raum zu stehen, hindert mich daran, mich der Illusion hinzugeben. Mir scheint, hier wird eine möglicherweise revolutionäre Technik entwickelt, die eventuell auch in der Kunst zu revolutionären Ergebnissen führen kann, die aber im Augenblick noch in den Kinderschuhen steckt und bekannte künstlerische Versatzstücke einfach in einen virtuellen Raum überträgt.
Virtual Reality in Theorie und Pornographie
Der Filmemacher Harun Farocki setzt sich in einigen gezeigten Arbeiten mit theoretischen Aspekten der Virtual Reality auseinander, kreiert visuelle Grenzerfahrungen und beschäftigt sich auch mit dem militärischen Einsatz der Virtual Reality. Vor seinen Filmen fühle ich mich in der Friedrichshafener Ausstellung etwas alleingelassen; hier wären ein paar Erklärungstafeln hilfreich gewesen – beispielsweise, um zu erläutern, dass er in seinem Film “Serious Games” auf echtes vom amerikanischen Militär genutztes Material zurückgreift und diese Nutzung kritisch beleuchtet.
Meine Tochter, wiewohl der einzige Digital Native in unserer Mikro-Besuchergruppe, hat sich mental ausgeklinkt und sieht ihrer Mutter zu, wie sie von Headset zu Headset wandert. Bei “Dickgirl 3D(X)” von Sidsel Meineche Hansen sagt mir der Museumsaufseher lapidar: “Ist ein bisschen pornographisch.” Ich versichere ihm, dass ich das dem Titel bereits entnehmen konnte. Was ich sehe, sind fleischfarbene Formen, mal rund, mal wachsend, es entsteht ein seltsames Penis-Drahtgestell im virtuellen Raum, ich höre dröhnendes Stöhnen und nehme mein Headset ab. Klischeemotive des Pornographischen, unerotisch bis zum Abwinken: Dieses Werk wirkt wie eine pflichtbewusste Hausaufgabe zu den Stichwörtern Kunst, Pornographie, Virtualität.
Möglichkeiten von Virtual Reality in der Kunst
Mein persönliches Highlight ist “Palo Alto” von Banz & Bowinkel, eine interaktive Installation, bei der man sich mit Hilfe eines selbstgelenkten Strahls in verschiedene Winkel und Ebenen einer virtuellen Architekturszenerie begeben kann, aus deren Elementen fortwährend graue Personen in großer Fülle herausströmen und -fallen. Schön surreal und dank dem interaktiven Element durchaus fesselnd. Ich will meine Tochter überreden, der Virtual Reality noch eine Chance zu geben, aber sie braucht erstmal frische Luft.
Es ist nicht so, dass es sie besonders interessiert, trotzdem trage ich ihr beim Verlassen der Ausstellung den Eindruck vor, der sich bei mir recht intensiv festgesetzt hat: Wir haben eine Ausstellung voller Experimente besucht, die mir eher als ein Zwischenstand in einer größeren Entwicklung erscheinen und nicht wie ausgereifte künstlerische Ergebnisse. Es wird sich noch einiges tun in Sachen Virtual Reality, wir Museumsbesucher mit Headsets werden von künftigen Generationen ziemlich sicher als Dinosaurier belächelt, und vielleicht entstehen im Zuge künftiger Entwicklungen irgendwann auch Kunstwerke von einer Dimension, die zuvor noch nicht erfahrbar war. Augenblicklich, scheint mir, sind wir noch nicht so weit. Der Ausflug an den Bodensee hat sich trotzdem gelohnt; das Projekt des Zeppelin Museums, die Möglichkeiten von Virtual-Reality-Kunst zu erforschen, bevor sie noch der Pilotphase entwachsen ist, verdient Beachtung.
INFO Virtual-Reality Kunst in Friedrichshafen:
Die Ausstellung “Schöne neue Welten. Virtuelle Realitäten in der zeitgenössischen Kunst” ist noch bis zum 8. April 2018 im Zeppelin Museum in Friedrichshafen am Bodensee zu sehen. Das Museum liegt direkt am Hafenbahnhof von Friedrichshafen – und unmittelbar am Bodenseeufer. Vom Hauptbahnhof ist man in einer knappen Viertelstunde zu Fuß am Museum. Die Öffnungszeiten sind Dienstag bis Sonntag von 10.00 bis 17.00 Uhr, der Eintrittspreis beträgt 4,00 Euro für Kinder von 6 bis 16 Jahren und 9,00 Euro für Erwachsene. In diesem Preis ist sowohl die Ausstellung inbegriffen als auch der sehr lohnende Museumsbereich, der sich mit Entwicklung, Technik und Historie des Zeppelins beschäftigt.
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