Zuletzt aktualisiert am 31. Januar 2020 um 11:05

Dies ist der Artikel, den kein Familienreiseblogger je schreiben wollte. Er könnte heißen: “Teen Travel – tranig, trüb, teuer”. Oder: “Wie ich von der Familienreisebloggerin zur überzeugten Solo-Travellerin wurde.” Oder, um den Anfang des Gedichts “Reisen” von Gottfried Benn zu zitieren: “Meinen Sie Zürich zum Beispiel / sei eine tiefere Stadt, / wo man Wunder und Weihen / immer als Inhalt hat?”

Ist es zu Hause am schönsten?

Da sitzt man dann in der Bahn auf dem Rückweg von Zürich und fragt sich: “Warum tue ich mir das an?” Zu Hause sieht man seine Kinder glücklich wieder in ihren Ferientrott verfallen und fragt sich: “Warum tue ich ihnen das an? Brauchen sie nicht einfach mal Ferien, in denen sie nur abhängen und chillen?” Gleichzeitig tobt das innere Rumpelstilzchen und zetert: “Da wolltet ihr einmal mit der Familie die Stadt ansehen, in der ihr Eltern jedes Jahr x-mal auf euren beruflichen Reisen in die Uhrenschweiz umsteigt, und jetzt? Ihr wisst immer noch nichts von Zürich, Stress statt Sightseeing, alles umsonst, und jede Menge Franken verpulvert!” Ich verspreche dem Rumpelstilzchen, den Lesern meines Blogs die ungeschönte Wahrheit mitzuteilen, damit sie relativieren, was sie auf Kind am Tellerrand und anderen Familienreiseblogs sonst immer zu lesen bekommen: dass nämlich das Reisen mit Kindern in jedem Alter eine fantastische Sache ist und immer eine Riesen-Bereicherung für alle.

Aber der Ärger verraucht, und nach kurzer Zeit kommt so ein Think-positive-Springteufelchen an die Oberfläche und erklärt, dass eigentlich niemals nichts passiert und dass man auch im Zustand übellauniger Bockigkeit nicht völlig die Augen und Ohren vor seiner Umgebung verschließen kann. Vor allem: Selbst, wenn man sich dem Reiseerlebnis mit großer Konsequenz verweigert, bekommt man als Teenager öfter mal Hunger. Und unter Umständen übermannt einen bei aller Widerwilligkeit sogar eine alterstypische Shopping-Lust. Womit das Reiseerlebnis schon begonnen hätte.

Torte hebt die Stimmung: Les Gourmandises de Miyuko

Les Gourmandises de Miyukp

Tortenglück in Zürich: Les Gourmandises de Miyuko

Ich habe bei diversen Gelegenheiten erwähnt, dass die Möglichkeit eines erträglichen Reisens mit Teenagern in unserer Familie deutlich an Cafébesuche gekoppelt ist. Wir kennen Zürich im Grunde gar nicht, aber einmal waren wir schon für einen Tagesausflug da und haben uns in das Café Les Gourmandises de Miyuko verliebt. Die Schweizer Konditorin und Grafikdesignerin Sara Hochuli hat ein lauschiges kleines Universum kreiert, das einen einzigartigen Crossover-Style zwischen japanischer Manga-Ästhetik und alternativer europäischer Kuscheligkeit praktiziert.

Wir gehen zu Fuß von unserem Hotel zu Miyuko und kommen durch beschaulich-elegante Wohnstraßen. “Hier sieht’s gar nicht so aus, wie man sich die Schweiz vorstellt.” “Doch, da hinten, das kleine Haus: wie aus dem Bilderbuch.”  Immerhin bekommen sie mit, dass wir in der Schweiz sind. Dann das Café selbst. Unser letzter Besuch ist so lange her, dass uns das japanophile Styling erneut komplett in seinen Bann schlägt (siehe auch Bild ganz oben im Artikel).

Miyuko Zürich

West-östliche Schnuckeligkeits-Fusion

Zürich mit Teenagern: Les Gourmandises de Miyuko

Wer entdeckt Totoro?

Man kann bei aller demonstrativen Unmotiviertheit auch überhaupt nichts gegen die Cranberry-Vanille-Tortenkreation mit “bizeli Thymian” einwenden; im Gegenteil: “Lecker. Gar nicht so süß, wie es aussieht”, wird mir von der gegenüberliegenden Tischseite mitgeteilt. Der Vater schweigt; das liegt am veganen Chocolate Cake. Die wunderbar designten Torten tragen, saisonal passend, Zuckerschneeflocken als Dekoration.

Sara Hochuli: Miyuko, Zürich

Für uns ein Gipfel des Tortendesigns: die Kreationen von Sara Hochuli

Les Gourmandises de Miyuko vegan

Die vegan-salzige Alternative: Scones mit Chutney und Hummus

Es gibt nicht nur Süßes, sondern auch vegane Sandwiches, Suppen, salzige Scones mit Chutney und Hummus. Die finde ich fantastisch, ebenso wie den japanischen Tee, den Miyuko im Angebot hat. Und ja, auch der Kaffee sei sehr gut, versichert mir das große Kind.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Kultur

Als wir Miyuko verlassen, gießt es. Wir können uns mit Google Maps nicht über den Weg einigen, durchschauen das Straßenbahnsystem nicht und hören die Töchter nörgeln: “Können wir bitte ins Hotel zurück?” Nein, könnt ihr nicht, liebe Kinder. Wir haben Karten für Brechts “Dreigroschenoper” im Schauspielhaus Zürich reserviert. Und wir gehen vielleicht ein bisschen zu oft ins Museum, dafür aber echt selten ins Theater.

Schauspielhaus Zürich

Das Schauspielhaus Zürich im Regen

Wir nehmen ein Taxi. Fahrer und Radio sprechen Schweizerdeutsch. Kurze Konversation, leise und diskret, mit der großen Tochter, die diese Mundart von einer Freundin kennt, sie aber noch nie bewusst in ihrem natürlichen Habitat erlebt hat. Säuerlich denke ich: Wenn die Stimmung bis zum Ende unseres Zürich-Aufenthalts nicht steigt, haben die Kinder wenigstens mal richtiges Schweizerdeutsch gehört. Vielleicht könnte das als Erfüllung eines Minimalanspruchs an kulturelle Bereicherung durchs Reisen durchgehen und die vielen schmerzlich durch Taxameter und Kassen rieselnden Franken irgendwie rechtfertigen.

Die nächsten geben wir für einen Vor-der-Vorstellungs-Snack im Supermarkt neben dem Schauspielhaus aus. Schweizer Chips sind lecker, die italienischen Mini-Salamis höchst elegant, Picknicks im Theaterfoyer im Einklang mit dem lässigen Stil und Gebaren des Zürcher Publikums. Den Nachtisch gibt es umsonst: Auf den Theaterfluren stehen Plexiglasboxen voller Ricola-Bonbons. Womit mein persönliches Vorurteil, in der Schweiz müsse man für alles bezahlen, abgeschmettert wird.

Ricola im Schauspielhaus Zürich

Im Zürcher Theater muss niemand husten

Muss der Haifisch zum Zahnarzt?

Mackie Messer sieht in der Zürcher Dreigroschenoper-Inszenierung von Tina Lanik ein bisschen aus wie David Bowie, und Polly Peachum trägt links und rechts Schnecken an der Stirn, die an die Katzenohren von Manga-Mädchen erinnern.

Die Dreigroschenoper Zürich

Jirka Zett als Mackie Messer, Elisa Plüss als Polly Peachum / (c) Matthias Horn

Zusammen mit ihren Komparsen richten sie auf der Bühne des Schauspielhauses ein schönes Spektakel an, nach dem wir Eltern uns nochmal genauer in die Besprechungen der Inszenierung vertiefen und den Kritikern zustimmen, die der Meinung sind, dem Haifisch fehlten bei dieser Darbietung ein wenig die Zähne. Gleichzeitig bin ich zufrieden, dass wir uns im Vorfeld nicht durch Attribute wie “lukullisch” und “harmlos” abschrecken ließen, die in manchen Kritiken zu lesen waren, denn unsere Töchter haben eindeutig etwas von diesem Abend. Zwar absolut nicht die gesellschaftskritische Theatererfahrung, die Brecht ihnen wohl gewünscht hätte, aber vor allem durch das Live-Erlebnis der – mäßig gesungenen – Lieder eine große Dosis Brechtschen Humors und Brechtscher Poesie.

Schauspielhaus Zürich: Die Dreigroschenoper

Polly und ihre Eltern: Klaus Brömmelmeier, Elisa Plüss, Isabelle Menke / (c) Matthias Horn

Dreigroschenoper Zürich

Mackie mit Kollegen: Jirka Zett und Ensemble / (c) Matthias Horn

Spirituell oder stylisch: Farbe in Zürich

Die “Dreigroschenoper” ist ein kurzes Zwischenhoch unseres Zürich-Aufenthalts; von nun an bleibt die Stimmung am Boden. Als wir am nächsten Morgen durch die Läden an den beiden Ufern der Limmat bummeln, wird uns in winzigen Zeitabständen mitgeteilt, dass es zu kalt für einfach alles sei. Trotzdem gibt es kleine Risse in der Teenager-Lethargie. Zum Beispiel, als wir an der Boutique der in der Schweiz sehr erfolgreichen schwedischen Papeterie-Marke Bookbinders Design vorbeikommen. Ein Betreten des stylischen Ladens wird befürwortet.

Bookbinders Design Zürich

Bookbinders Design: In der Schweiz mag man die schwedischen Schreibwaren

Kleine My, Bookbinders Design

Die kleine My in Zürich

Weitaus erstaunlicher: Der kummervolle Fatalismus, mit dem die Töchter auf unseren Druck hin das Zürcher Großmünster betreten, schlägt für wenige kurze Augenblicke in wohlwollendes Interesse um, als wir uns die überraschenden Kirchenfenster ansehen, die der deutsche Künstler Sigmar Polke geschaffen hat. Teils sind sie abstrakt, teils zeigen sie Motive, die in mehr oder weniger deutlicher Form an Bibelgeschichten anknüpfen. Ihre Machart ist vielfältig und spannend, die Wirkung nicht von der Hand zu weisen.

Sigmar Polke Kirchenfenster Zürich

Sigmar Polke, Achatfenster, 2009, Grossmünster Zürich / (c) The Estate of Sigmar Polke, Cologne/Grossmünster Zürich

Von fleischlos bis nachhaltig: Die Schweizer sind weiter als wir

Man friere nicht nur, man habe auch Hunger, heißt es aus den paar Zentimetern Höhe, um die mich meine Töchter mittlerweile überragen. Zum Glück wissen wir, wo wir essen wollen – eine Freundin schwärmt uns seit Jahren von Hiltl vor, Zürichs berühmtem Mekka für Vegetarier. Hiltl gibt es seit 1898, und es gilt als das älteste vegetarische Restaurant der Welt. Heute ist Hiltl ein kleines Imperium mit verschiedenen Standorten, klassischen Restaurants, Catering-Betrieb, Laden und Buffet-Restaurants. Wir warten wenige Minuten auf einen Buffet-Tisch im zentralen Haus Hiltl und betreten dann ein fleischloses Paradies. Hiltl zelebriert gerade die indische Küche, die wir alle lieben. Außerdem gibt es eine Fülle – laut Website über 100 – von Salaten, Pasten und warmen Speisen, unter denen sich sogar so unverdächtige Dinge wie Pommes finden. Und einen eigenen Tisch mit Desserts. Bezahlt wird nach Gewicht; günstig ist es auch hier keineswegs.

Hiltl-Buffet Zürich

Bei Hiltl isst man seit 120 Jahren vegetarisch

Haus Hiltl Zürich

Nachhaltigkeit liegt im Trend

Bei Hiltl geht es nicht nur um Fleischlosigkeit, sondern auch um Nachhaltigkeit. “Trinkwasser offeriert”, teilt uns ein Schild über einem wohldesignten Wasserhahn mit. Und dass die ebenfalls offerierten Trinkbecher, die genauso aussehen wie herkömmliche Plastikbecher, zu hundert Prozent biologisch abbaubar seien. Das gibt ein deutliches Tumbs-up von den Töchtern.

Changemaker Zürich

Die Changemaker-Boutique in Zürich

Man mag zu Recht darauf verweisen, dass nachhaltiger sowie fairer Konsum nicht ganz billig ist. Aber immerhin ist er eine sinnvolle Möglichkeit, Geld zu investieren, und die Schweizer, die bekanntlich nicht zu den ärmsten Bevölkerungen der Welt gehören, sind diesbezüglich einen guten Schritt weiter als wir. Vegan, vegetarisch, nachhaltig, fair gehandelt: Diese Attribute begegnen uns beim Zürich-Stadtbummel genausooft wie cooles Design. Der Laden Changemaker verbindet Fairness, Nachhaltigkeit und Designbewusstsein auf überzeugende Weise. Changemaker ist eine kleine Schweizer Kette, die unter dem Slogan “Ethik küsst Ästhetik” viele schöne Dinge von kleinen Manufakturen aus aller Welt verkauft – immer mit detaillierten Hinweisen auf das Umfeld und die Arbeitsweise ihrer Produktion. Was die Zürcher Changemaker-Boutique im Angebot hat, sieht toll aus und erzählt spannende Geschichten. Wir lassen ein paar Franken da, und das diesmal ganz gern. Tumbs up.

Changemaker

Changemaker informiert genau über die Herkunft der verkauften Produkte

Changemaker: Fair Trade

Schön, fair, nachhaltig: Changemaker finden wir gut

Zürich mit den Teen-Töchtern: unterm Strich

Ich weiß: Klingt alles gar nicht so schlecht. Nachhaltigkeit, Design, Theater, ein fantastisches Café, sogar Kirchenfenster-Kunst: der Stoff, mit dem man als Blogger seinen Lesern erzählt, wie toll ein Reiseziel ist und wie geeignet für die jeweiligen Reisenden – Kinder, Jugendliche, jüngere oder ältere Erwachsene -, mit denen man unterwegs war. Unterm Strich bleibt natürlich bei unseren Töchtern auch nach diesem Trip, den sie höchst widerwillig angetreten und durchgezogen haben, etwas hängen. Umsonst war die Reise also nicht (auch nicht in pekuniärer Hinsicht; siehe oben), aber wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: Die Erinnerungen sind zwar aus der Distanz nicht übel, aber mit unmotivierten Teenagern unterwegs zu sein, ist purer Stress, mit dem ich mir meine familiären Reiseerlebnisse nicht erkaufen möchte. Ich weiß noch nicht, wie wir weitermachen. Motivation kann man nur schwer erzwingen. Einer Teilmenge meiner zweiköpfigen Kinderschar habe ich bereits angeboten, während unseres nächsten Städtetrips zu den Großeltern zu fahren. Das wurde abgelehnt. Vielleicht funktioniert es über diese Schiene: Von Fall zu Fall dem unmotiviertesten Kind freistellen, ob es mitkommen will, und bei einem Ja dann auch ein gewisses Mitspielen erwarten. Wir werden sehen.

Sprüngli Luxemburgerli

Ohne eine Schachtel Luxemburgerli von Sprüngli sind wir dann doch nicht nach Hause gefahren