Zuletzt aktualisiert am 6. März 2017 um 18:38

Bücher-Countdown Nr. 7

Schade, dass das hier ein Blog ist und keine Bewertungsplattform. Sonst könnte ich dem Buch DAS GANZ UND GAR UNBEDEUTENDE LEBEN DER CHARITY TIDDLER von Marie-Aude Murail (erschienen bei Fischer) fünf Punkte geben oder sechs oder hundert; was auch immer die Höchstzahl wäre. Der biographische Roman um die englische Künstlerin und Peter-Rabbit-Erfinderin Beatrix Potter hätte sie alle verdient.

Auf 570 Seiten ins viktorianische Zeitalter

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Was für ein Buch. 570 Seiten überraschendes, amüsantes, geistreiches und mitreißendes Leseglück; 570 Seiten, die man mental im England des späten 19. Jahrhunderts verbringt und durch die man von einer Erzählerstimme geführt wird, die in der Jugendliteratur ihresgleichen sucht.

Charity Tiddler ist Beatrix Potter – mehr oder weniger. Die französische Autorin Marie-Aude Murail nimmt Grundlinien aus der Jugendbiographie der realen 1866 geborenen Künstlerin und verwebt sie mit fiktiven Handlungssträngen, die das persönliche Leben der Hauptperson gelegentlich auf Pfade führen, auf denen Beatrix Potter niemals gewandelt ist. Gleichzeitig jedoch stellt Murail die revolutionäre, für ihre Zeit gänzlich untypische Künstlerlaufbahn einer Tochter aus der besseren Gesellschaft so eindrucksvoll dar, wie sie sich im Falle der Beatrix Potter wirklich abgespielt hat.

Ein Künstlerinnenroman

Charity Tiddler ist die Sorte Kind, die einer etwas faden, sehr selbstsüchtigen Dame der Gesellschaft wie ihrer Mutter völlig ungelegen kommt. Nicht graziös und musikalisch, sondern vernarrt in Tiere, interessiert an Naturwissenschaften und – immerhin, denn dieses Talent gehörte zu den viktorianischen Mädchentugenden – eine begnadete Zeichnerin. Ein ganz anderer Mädchentypus als Charitys reiche Cousinen, die sich für Status und Kleider interessieren, und die man immer wieder für Festivitäten und Teegesellschaften besucht – in Szenen wie von Jane Austen, deren Esprit auch überall da begegnet, wo es um die Tücken des konventionellen Heiratsmarkts geht.

Auf dem ist Charity eine Niete; mit den Kandidaten, die ihre Mutter ihr hoffnungsvoll zuführt, verbindet sie gegenseitiges Desinteresse. Dass es da trotzdem einen unstandesgemäßen romantischen roten Faden in ihrem Leben gibt, hat mit Beatrix Potters Vorbild wenig zu tun, verleiht dem Roman aber zusätzliche Dramatik und Würze. Statt jedenfalls zu tun, was ordentliche junge Mädchen in ihrem Alter zu tun pflegen, macht Charity, was auch Beatrix Potter tat: Sie zeichnet unermüdlich, entwickelt aus ihren Naturskizzen Tiercharaktere mit menschlichen Zügen sowie Kleidern und erzählt um diese Gestalten herum Geschichten, aus denen Kinderbücher werden. Sehr erfolgreiche Kinderbücher, die den gesellschaftlichen Status ihrer Schöpferin völlig ruinieren: Als eine Künstlerin, die ihren Lebensunterhalt mit Arbeit verdient, ist sie für die viktorianische englische Society verloren.

Marie-Aude Murail gönnt Jugendlichen hervorragende Literatur

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Aus diesem Stoff macht die in Frankreich sehr bekannte Jugendbuchautorin Marie-Aude Murail etwas, was zugleich Entwicklungsroman ist, historischer Gesellschaftsroman mit satirischen Zügen und Künstlerroman für Kinder. Doch nicht genug damit, dass sie ein Jugendbuch von klassischer literarischer Komplexität schreibt: Sie schreibt es so, dass die Lektüre die reinste Wonne ist. Ein ironischer Unterton durchzieht das Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Den legt Murail ihrer Hauptperson Charity in den Mund. In pointiertem und persönlichem Zusammenschnitt erzählt Charity rückblickend von den wichtigsten Episoden und Personen ihres Lebens, das leichtfüßig und in flottem Tempo am Leser vorüberzieht. Dialoge gibt es in Hülle und Fülle, ganz wie bei Jane Austen, und Murail entscheidet sich dafür, die Gespräche in der Form von Theaterdialogen wiederzugeben: ohne “sagte sie” und “sagte ich”; stattdessen erscheint vor der wörtlichen Rede nur der Name des Sprechers. Dadurch werden die häufig extrem amüsanten Wortwechsel noch etwas zackiger, schneller, direkter, witziger. Manchmal treten zu den Sprechernamen Regieanweisungen hinzu: “MAMA, leicht sarkastisch: …” Der Erzählfluss wird aufgebrochen, der Leser unmittelbar in Charitys Wahrnehmung hineingezogen. Simplizität und Eindimensionalität haben bei Marie-Aude Murail keine Chance; ihr brillanter Stil setzt den Leser auf eine nicht nur für Jugendbücher bemerkenswerte Weise in die Rolle eines ebenbürtigen Mitspielers des Geschehens.

Die Erzähltugenden dieses Buches sind durch und durch angelsächsisch: Es ist so knapp, gut getaktet, lässig, ironisch, wie das meiner bisherigen Erfahrung nach nur im Englischen geht. Geschrieben wurde es allerdings in Französisch und von da aus in ein bewundernswert spritziges Deutsch übertragen – durch Tobias Scheffel, der für die Übersetzung des Murail-Romans “Simpel” mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Und noch eine dritte Person ist am Gelingen von Charitys Geschichte beteiligt: Der französische Zeichner Philippe Dumas hat den Roman mit skizzenhaften, leichten Bildern illustriert, die etwas von Beatrix Potters Ästhetik und etwas von der Atmosphäre ihrer Zeit einfangen.

In Deutschland wird DAS GANZ UND GAR UNBEDEUTENDE LEBEN DER CHARITY TIDDLER für Leser ab zehn Jahren empfohlen, in Frankreich ab zwölf. Natürlich kann man es mit zehn lesen, aber mit zwölf ist man zweifelsohne eher in dem richtigen Alter für den Reichtum dieses Buches, über das ich jetzt genug geschwärmt habe. Muss ich noch hinzufügen, dass es auch für Erwachsene eine fantastische Lektüre ist?

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